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Wenn Sie der Meinung sind, das sähe etwas schräg aus, sind Sie soeben Opfer einer optischen Täuschung geworden – die dicken Linien verlaufen nämlich exakt parallel!
Diese Täuschung wurde nach J. Zöllner benannt, der – wie viele Entdecker optischer Täuschungen – im 19. Jahrhundert gelebt hat.
Der Eindruck, die Linien würden sich einander annähern bzw. von einander entfernen, ist bei dieser Täuschung am stärksten, wenn die Parallelen eine Neigung von etwa 45° aufweisen.
Damit diese Illusion zustande kommt, müssen die Parallelen von den kurzen Sprossen nicht durchkreuzt werden – es reicht aus, wenn sie an die Parallelen angrenzen. Selbst wenn die Parallelen entfernt worden sind, erscheint der Abstand der Sprossen nicht gleichmäßig.
Die scheinbare Neigung erfolgt in Richtung einer Senkrechten, die auf den Sprossen steht (in der Abbildung rot dargestellt).
Kippt man die Täuschung (auf einem Blatt Papier) flach nach hinten und schaut dann entlang der Parallelen, verschwindet die Täuschung.33
Die folgende Theorie der Winkelverzerrung durch unser Wahrnehmungssystem geht davon aus, dass eine Fehleinschätzung der Winkel in der Zöllner-Figur für die Täuschung verantwortlich ist. Unser Wahrnehmungssystem hat die Eigenschaft, spitze Winkel vergrößert wahrzunehmen (Winkelüberschätzung) und stumpfe Winkel kleiner zu erfassen, als sie tatsächlich sind.
In der Abbildung rechts sind die modifizierten Winkel rot dargestellt. Die Liniensegmente erhalten durch die Winkelfehleinschätzung eine neue Orientierung. Auf den weiteren Verarbeitungsstufen des visuellen Systems werden die Liniensegmente wieder zu einer durchgängigen Linie verschmolzen – mit einer von der Ursprungsrichtung abweichenden Orientierung.
Man vermutet, dass die Winkelfehleinschätzung durch bestimmte Nervenzellen in der Sehrinde – den orientierungsspezifischen Zellen der Area striata im visuellen Cortex – verursacht wird. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie nur auf eine bestimmte Reizorientierung mit voller Aktivität reagieren, auf andere Reizorientierungen entsprechend geringer.
Zusammen mit Prozessen lateraler Hemmung, die bereits auf der Ebene der Netzhaut stattfinden, ergeben sich bei spitzen Winkeln Überschneidungen derart gehemmter Netzhautbereiche.
Die Folge daraus ist, dass die Aktivität der für diesen Reiz weniger spezifischen Neuronen auf der Winkelinnenseite stärker abnimmt als auf der Winkelaußenseite – der Schwerpunkt verschiebt sich dadurch nach außen, der Winkel wird falsch eingeschätzt.17
Diese Theorie wird durch die Beobachtungen von G. Wallace und seinen Mitarbeitern gestützt, die eine Verstärkung der Täuschung festgestellt haben, wenn die Versuchsbedingungen die laterale Hemmung verstärken; dies ist z.B. durch eine Erhöhung des Helligkeitskontrastes oder eine erhöhte Anzahl der induzierenden Linien möglich.39
Allerdings bleibt die Täuschung auch dann erhalten, wenn die Parallelen durch Punktereihen oder bewegte Punkte ersetzt werden.39 Dies lässt sich mit Prozessen lateraler Hemmung nur dann erklären, wenn richtungsspezifische Neurone existieren, die auf diese Ersatzzeichen für die Parallelen ebenso reagieren wie die orientierungsspezifischen Zellen der Area striata auf die beschriebenen Linienkonfigurationen. 39
Die Verminderung der Täuschung bei gekippter Betrachtung (wodurch die Zöllner-Figur durch die Gesetze der Perspektive anders erscheint) wurde von D.C. Earle und S.J. Maskell untersucht. Anlass dafür war die Hypothese, dass in gekippter Form die spitzen Winkel der Figur bereits aufgrund der Perspektive auf der Netzhaut vergrößert abgebildet werden und die Figur dadurch als perspektivisch korrekt wahrgenommen wird. Darum entfällt eine weitere Vergrößerung der spitzen Winkel durch unser Wahrnehmungssystem – die Täuschung wird abgeschwächt oder verschwindet ganz. 41
Allerdings konnte in dieser Studie festgestellt werden, dass die Täuschungsintensität einer tatsächlich gekippten Zöllner-Figur nicht der in einer vertikalen Ebene dargebotenen, perspektivisch korrekten Abbildung entspricht.41 Darum müssen noch weitere Faktoren eine Rolle spielen; so schlägt eine weitere Hypothese vor, dass der verminderte Kontrast der Linien bei gekippter Betrachtung eine Rolle spielt.41
Eine weitere bekannte Täuschung, die sog. Jastrow-Täuschung, basiert auf demselben Prinzip: Obwohl die beiden Kreissegmente exakt gleich groß sind, erscheint das obere Segment kleiner als das untere.
Die Ursache dafür liegt in den schrägen Kanten der Segmente: Analog zur Zöllner-Täuschung vermitteln sie den Eindruck, die Breite der oberen Teilfigur sei geringer – in der Abbildung durch die beiden konvergenten, gestrichelten Linien dargestellt.
Führt man dieses Schema weiter, gelangt man zur sog. Fischgräten-Täuschung: auch hier induzieren die Schrägen einen konvergenten bzw. divergenten Verlauf der Figur.
Literaturverweise:
33 Illusionen des Sehens – T. Ditzinger – 1997
17 Wahrnehmung – I. Rock – 1985
39 Geometrisch-optische Täuschungen – B. Gillam – 1987
41 Slope and the Zöllner illusion – D.C. Earle/S.J. Maskell – 1999
Autor: Prof. Dr. Bernd Lingelbach