Haben Sie schon einmal ein Uhrenpendel gesehen, das sich im Kreis bewegt?
C. Pulfrich hat den nach ihm benannten Effekt mit Sicherheit auch an einer Pendeluhr ausprobiert: Betrachtet man beidäugig ein seitlich schwingendes Pendel mit einem relativ dunklen Filterglas vor einem Auge, scheint das Pendel plötzlich in einer Kreisbahn zu schwingen.
Werden zwei Reize zeitlich versetzt dargeboten, resultiert unter bestimmten Umständen ein räumlicher Versatz. Genau diese Tatsache ist für den Pulfrich-Effekt verantwortlich: bei dieser Täuschung blickt ein Auge durch einen dichten, grauen Filter (Absorption von etwa 90%), das andere Auge direkt auf ein seitlich schwingendes Pendel.
Durch den Filter erreicht das Bild das Auge erst Bruchteile von Sekunden später, während das Pendel in dieser Zeit bereits ein weiteres Wegstück zurückgelegt hat. Die beiden Augen erhalten also zwei verschiedene Bilder mit einem räumlichen Versatz, der stereoskopischen Parallaxe (entspricht dem Weg, den das Pendel zwischen Bildentstehung im rechten Auge und der Bildentstehung im linken Auge bzw. umgekehrt, zurückgelegt hat). Daraus errechnet das Gehirn einen Tiefenversatz und das Pendel scheint in einer elliptischen Bahn zu schwingen. Die Ursache für dieses Phänomen liegt in der unterschiedlich schnellen Reizweiterleitung für verschieden helle Reize: je heller ein Reiz ist, desto schneller wird er an das Sehzentrum im Gehirn weitergeleitet.
Voraussetzung für diese Täuschung ist ein intaktes Tiefensehen (Stereopsis), die Fähigkeit, das relativ helle und das relativ lichtschwache Bild miteinander zu verschmelzen und eine visuell reiche Umgebung, d.h. viele Bezugspunkte, anhand derer die Pendelbahn beurteilt werden kann.16
Der Effekt ist übrigens auch bei Beobachtung durch ein blaues Filterglas zu sehen, da die Reizverarbeitung durch dir für Blau zuständigen Nervenzellen ebenfalls langsamer erfolgt als für andersfarbige Reize.33 Häufig reicht auch das Vorhalten einer Sonnenbrille vor ein Auge aus, um die Täuschung an einem Pendel zu beobachten.
Welche Prozesse sind für die unterschiedlich schnelle Reizweiterleitung verantwortlich?
Die Hauptursache liegt vermutlich an der Reizverarbeitung durch verschiedene Nervensysteme, durch das magnozelluläre System und das parvozelluläre System.
Das magnozelluläre System leitet v.a. die Erregung von Stäbchen zum Sehzentrum und reagiert ausschließlich auf Hell-Dunkel-Unterschiede. Das parvozelluläre System ist hauptsächlich für die Erregungsweiterleitung der Zapfen zuständig; die Hauptaufgabe dieses Systems liegt in der Erkennung von Farben und Mustern. Die beiden Systeme sind allerdings durch die Vernetzung mit beiden Rezeptorentypen (in unterschiedlichen Anteilen) nicht strikt getrennt; so ist beim photopischen Sehen durchaus auch das magnozelluläre System aktiv, wenn auch nur in geringem Maße im Vergleich zum parvozellulären System.
Die beiden Systeme unterscheiden sich auch in ihrem zeitlichen Auflösungsvermögen. Zapfen weisen eine kürzere Regenerationszeit des Sehpigments auf als Stäbchen. Dadurch entsteht trotz langsamerer Reizleitung durch die parvozellulären Ganglienzellen ein höheres zeitliches Auflösungsvermögen für kleine Reizdurchmesser als für das magnozelluläre System. Bei größeren Reizdurchmessern wirkt sich die schnellere Erregungsleitung des magnozellulären Systems aus: sie kompensiert die längere Regenerationszeit des Rhodopsins; es resultiert für diese Stimuli ein höheres zeitliches Auflösungsvermögen als für das parvozelluläre System.
Die Aktivität der beiden System ist vom Adaptationszustand abhängig. Während beim photopischen Sehen („Tagessehen“) ausschließlich Zapfen aktiv sind, gilt dies beim skotopischen Sehen („Nachtsehen“) für die Stäbchen. Beim mesopischen Sehen sind beide Systeme aktiv: in welchem Verhältnis die beiden Rezeptorentypen aktiv sind, hängt von der Leuchtdichte und der Adaptationsdauer ab. Diese Einteilung ist dabei nicht absolut, die Grenzen zwischen den Adaptationszuständen sind fließend. Außerdem beeinflussen sich die beiden Systeme gegenseitig, u.a. über Assoziationszellen zwischen den Rezeptoren in der Netzhaut.
Wird nun vor ein Auge ein relativ dunkler Filter platziert, beginnt bereits hier die Dunkeladaptation: der Anteil der aktiven Zapfen sinkt ab; je nach Adaptationsdauer werden bereits einige Stäbchen aktiv und damit verstärkt das magnozelluläre System. Die Folge daraus ist eine langsamere Weiterleitung der Erregung zum Cortex.
Verwendet man anstatt des dunklen grauen Filters einen Blaufilter, werden auf diesem Auge ausschließlich die Blauzapfen gereizt. Die Ganglienzellen, die den Blauzapfen nachgeschaltet sind, haben gegenüber den anderen Ganglienzellen eine verzögerte Erregungsleitung. Dadurch gelangen auch hier die Signale dieses Auges zeitlich verzögert zum Cortex.
Literaturverweise:
16 Macht schwarz schlank? – J. Ninio – 1999
auch die Abbildung zum Tiefeneindruck ist aus diesem Buch entnommen
33 Illusionen des Sehens – T. Ditzinger – 1997
Autor: Prof. Dr. Bernd Lingelbach