Bei der Betrachtung dieses Gitters werden Sie ein eigenartiges Funkeln (scintillate = funkeln) entdecken!
Versuchen Sie allerdings, dem Funkeln mit einer Blickbewe
gung zu folgen, verschwindet es an dieser Stelle und tritt an einer anderen auf. Dass es nicht gelingt, den Effekt mit einer Blickbewegung „einzufangen“, liegt an der Verarbeitungsstruktur des optischen Systems.
Das szintillierende Gitter ist eine Weiterentwicklung des bekannten Hermann-Gitters.
L. Hermann entdeckte 1870 in dem Buch „Der Schall“ von J. Tyndall in der nebenstehenden Abbildung der Chladnischen Klangfiguren, dass die Kreuzungsstellen der weißen Strassen dunkler erscheinen als die Strassen selbst. Beim direkten Blick auf die Kreuzungen aber verschwindet die Täuschung, während sie im Umfeld erhalten bleibt.
Bei Vergrößerung des Beobachtungsabstandes um 1 bis 2 Schritte können einige Menschen dunkle Diagonalen mitten durch die Kreuzungen sehen.34 Unter der Abbildung der Klangfiguren ist das klassische Hermanngitter abgebildet.
Die Ursache für diesen Effekt sind die Kontrastverarbeitungsmechanismen unseres optischen Systems: es berücksichtigt ständig die Umgebung des fixierten Punktes und errechnet daraus Kontrastverstärkung oder Kontrastverminderung (Assimilation). Das bedeutet, dass der subjektiv wahrgenommene Kontrast i.d.R. nicht den objektiven Verhältnissen entspricht, sondern durch das visuelle System modifiziert wird
Wie genau kommt es zu der Täuschung am Hermann-Gitter?
Für jede Ganglienzelle des Nervus Opticus existiert ein bestimmter Netzhautbereich – das rezeptive Feld dieser Zelle – durch die das Neuron erregt oder gehemmt werden kann. Das rezeptive Feld selbst entsteht durch Verschaltungen der Rezeptoren eines bestimmten Netzhautareals über die sog. Assoziationszellen – Horizontalzellen, Amakrinzellen und interplexiformen Zellen.
Durch die verschiedenen Verschaltungsmöglichkeiten ergeben sich unterschiedliche Strukturen rezeptiver Felder: Bei sog. ON-Zentrum-Neuronen verursacht eine Belichtung im Zentrum des rezeptiven Feldes Erregung, in der Peripherie des Feldes dagegen Hemmung; bei den sog. OFF-Zentrum-Neuronen verhält es sich genau umgekehrt: eine Belichtung im Zentrum wirkt hemmend, während bei Belichtung der Peripherie Erregung resultiert. Für beide Arten gilt: werden beide Bereiche gleichzeitig angesprochen, findet eine Verrechnung der Erregung / Hemmung statt.
Beim Hermann-Gitter tritt nun die Situation auf, dass die Breite der weißen Strassen gerade dem Durchmesser der rezeptiven Felder entspricht. Dadurch treten für die Strassen und die Strassenkreuzungen unterschiedliche Verhältnisse auf, die hier in einem vereinfachten Berechnungsmodell für ein On-Zentrum-Neuron dargestellt sind.
In Abbildung 1 wird das ganze rezeptive Feld gleichmäßig beleuchtet; die durch die Belichtung der Peripherie entstehende Hemmung entspricht der im Zentrum ausgelösten Erregung – sie heben sich gegenseitig auf, die Ganglienzelle ist nicht aktiv.
In Abbildung 4 wird das gesamte rezeptive Feld nicht beleuchtet; dadurch ist keinerlei Aktivität der Ganglienzelle zu verzeichnen.
Abbildung 2 simuliert die Situation beim Blick auf eine der Gassen im Hermann-Gitter. Summiert man die Relativwerte für Hemmung und Erregung, ergibt sich folgende Rechnung: +8 + (-2) = +6; die Gasse wird also relativ hell wahrgenommen.
Abbildung 3 zeigt die Situation an einer Kreuzung. Summiert man auch hier die Relativwerte für Hemmung und Erregung, kommt man zur folgenden Rechnung: +8 + (-4) = +4; die Kreuzung wird durch den höheren Anteil der sog. lateralen Hemmung dunkler als die Gassen wahrgenommen, sie erscheint grau.
Mit Hilfe des Hermann-Gittereffekts ist es auch möglich, die Größe der rezeptiven Felder abzuschätzen, die u.a. von den Leuchtdichteverhältnissen abhängig ist. Erscheinungen wie die Diagonalen im Gitter können allerdings mit diesem Schema nicht erklärt werden.
Wie unterscheidet sich das szintillierende Gitter vom Hermann-Gitter?
Bereits 1985 wurde von Dr. Bergen eine tiefpassgefilterte (= unscharfe) Variation des Hermann-Gitters als „Scintillation Grid“ vorgestellt.34 Als E. und B. Lingelbach sowie M. Schrauf 1994 mit dieser Version experimentierten, entdeckten sie das oben abgebildete, nicht gefilterte Muster.34
Das szintillierende Gitter besteht aus einem Hermann-Gitter (schwarzer Hintergrund mit grauen Strassen), in dessen Kreuzungsstellen hellere Punkte eingefügt wurden. Die Täuschung funktioniert auch mit unterschiedlichen Farbkombinationen.
Es zeichnet sich dadurch aus, dass in einem Beobachtungsabstand von 2-3 Metern anstelle der weißen Punkte innerhalb der Kreuzungen tiefschwarze Punkte auftauchen. Sie verschwinden sofort wieder, um an anderer Stelle wieder zu erscheinen; es sind also permanente Augenbewegungen notwendig, um den Effekt zu beobachten.35 Außerdem sind die dunklen Punkte nur peripher sichtbar, können also nicht direkt fixiert werden. Variiert man die Beobachtungsentfernung, so findet man einen Abstand, in dem der Effekt besonders stark ist. Die Täuschung kann auch monokular betrachtet werden, dabei „flackern“ allerdings erheblich weniger schwarze Punkte auf.34
Im Gegensatz zum Hermann-Gitter lässt sich die Täuschung nicht mit einem einfachen Kontrastphänomen erklären, da der Effekt dafür viel zu stark ausfällt. Außerdem ist die Täuschung (nicht wie das Hermann-Gitter) an eine regelmäßige Gitterstruktur gebunden, sondern kann auch in unregelmäßigen Mustern auftreten.
In die Erklärungsansätze fließen darum lokale Eigenschaften der Bildanalyse (Gabor-funktion, Wavelets) ein.34 Der Effekt lässt sich allerdings bisher nicht eindeutig erklären.
Spielen Sie mit dem Effekt mit unserem Grid-Generator
DOZ-Artikel: Das Hermann-Gitter und die Folgen
Literaturverweise:
34 B. Lingelbach – Institut für Augenoptik / Aalen – 2000
35 The Scintillating Grid Illusion – M. Schrauf, B. Lingelbach, E.R. Wist – 1996
Autor: Prof. Dr. Bernd Lingelbach