Von 1 m auf 2 m Größe in 5 Sekunden…?
Eine Person erscheint in der linken Ecke als Zwerg, während sie in der rechten
Ecke wie ein Riese aussieht. Geht sie entlang der Wand von links nach rechts, scheint sie zu wachsen – in der anderen Richtung zu schrumpfen. All dies ist möglich im Ames-Raum, der bereits 1946 von A. Ames geplant und gebaut wurde.21
Was ist das Geheimnis dieses Raumes?
Im Auge entsteht das Bild eines rechtwinkligen Raumes.
Dieser Seheindruck entsteht jedoch nur beim Blick durch das Beobachter-Guckloch.
Denn Fakt ist, dass in diesem Raum nicht ein einziger rechter Winkel existiert. Der Raum ist in Wirklichkeit so verzerrt, dass die linke hintere Ecke tiefer und weiter weg liegt als die rechte hintere Ecke; die Rückwand verläuft dadurch schräg nach links hinten.
Das Schachbrettmuster am Boden ist dabei so aufgemalt, dass es nach links hinten größer wird – durch die größere Entfernung erscheint es dem Beobachter jedoch mit gleich großen Feldern wie in der rechten Ecke, die näher liegt.
Dasselbe Prinzip wurde bei den Fenstern verwirklicht. Durch diese unterschiedlichen Entfernungen kommen auch die verfälschten Größenverhältnisse zustande: In der linken Ecke erscheint die Person bzw. das Objekt klein, in der rechten Ecke groß. Tatsächlich ist sie links weiter vom Beobachter entfernt als rechts.
Das Wachsen bzw. Schrumpfen resultiert daraus, dass sich die Person dem Beobachter annähert bzw. sich weiter entfernt. Bei beidäugiger Betrachtung kann man durch das räumliche Sehen die Verzerrung des Raumes wahrnehmen; schließt man ein Auge, erscheint der Raum rechtwinklig. Dabei können durchaus Unterschiede bestehen, ob man das rechte oder linke Auge schließt – es kommt vor, dass eines der beiden Augen empfindlicher auf die Verzerrung reagiert als das andere.21 Nimmt man trotz der Betrachtung mit einem Auge noch eine Verzerrung wahr, wird diese i.d.R. vom Wahrnehmungssystem nach etwa 20 Sekunden ausgeglichen und der Raum erscheint dann symmetrisch.21 In der Literatur wurde außerdem ein als Honi-Phänomen bezeichneter Effekt beschrieben: bei sehr vertrauten, bekannten Personen wie z.B. dem Ehemann ist die Größentäuschung geringer bzw. gar nicht vorhanden.21
Wie ist der Ames-Raum genau aufgebaut?
Klappt man einen würfelförmigen Raum „auf“, so er
hält man ein„Schnittmuster“ wie es in nebenstehender Abbildung zu sehen ist. Da alle Kanten bzw. Linien zueinander parallel sind, handelt es sich – perspektivisch betrachtet – um eine Parallelperspektive, bei der die Fluchtpunkte im Unendlichen liegen (dort treffen sich die grün markierten Fluchtlinien). Blickt nun ein Beobachter durch eines der beiden Gucklöcher, erscheint der Raum unter normalen perspektivischen Bedingungen: parallele Strukturen, die in Blickrichtung des Beobachters liegen, nähern sich in der Ferne an und treffen sich (fortgesetzt) in einem imaginären Fluchtpunkt, der in dieser Situation im Endlichen vor dem Beobachter liegt (siehe nebenstehende Abbildung). Daraus resultiert auch die perspektivische Verkleinerung von Objekten mit zunehmender Entfernung. Beim Ames-Raum hingegen sind bereits die Fluchtpunkte des Grundrisses ins Endliche verlegt, wobei die Beobachterpunkte auf derselben Achse liegen. Diese Perspektive, bei der die Fluchtpunkte hinter dem Beobachter liegen, wird als hyperzentrische Perspektive bezeichnet.15Anders als bei der vorher beschriebenen Perspektive werden die Elemente mit zunehmender Entfernung
größer – durch den größeren Abstand erscheinen sie aber gleich groß wie dies im oberen Fall beschrieben wurde (beim Schachbrettmuster erscheinen die entfernten Felder unter
demselben Sehwinkel wie die Felder bei
einem rechtwinkligen Raum).
Der Raum erscheint dem Beobachter durch und durch parallel und rechtwinklig, da die Kanten des Raumes dasselbe Netzhautbild erzeugen wie ein rechtwinkliger Raum mit quadratischem Grundriss. Und durch die Verlegung zweier Fluchtpunkte, die auf zueinander rechtwinkligen Achsen stehen, existieren auch zwei Beobachterpunkte, von denen aus der Raum perspektivisch richtig erscheint. Durch den Grad der Verschiebung der Fluchtpunkte kann man bei der Konstruktion verschiedene Vergrößerungsfaktoren erreichen. Bei unserem Modell beträgt der Faktor etwa 1,6, relativ häufig wird ein Faktor von 2,0 verwirklicht.
Die monokulare Beobachtung ist notwendig, um den Faktor der Stereopsis auszuschalten – sie würde (zumindest teilweise) eine realistische Abschätzung der tatsächlichen Raumverhältnisse zulassen.21 Strukturen, die auf die tatsächliche Form des Raumes hindeuten (wie z.B. die Struktur der verwendeten Holzplatten) mussten beseitigt bzw. kaschiert werden, da sie als monokulare Tiefenmerkmale die Täuschung aufheben würden.21 Zusätzlich zum Vergrößerungseffekt durch die Konstruktion des Raumes kommt das Phänomen der Größenkonstanz zum Zuge: Dieser Mechanismus, der die wahrgenommene Entfernung mit der Netzhautbildgröße verrechnet, sorgt normalerweise dafür, dass nahe Objekte in einem bestimmten Bereich als konstant groß erscheinen.
Im Fall des Ames-Raumes sorgt sie jedoch für eine zusätzliche Verstärkung der Täuschung: In der linken hinteren Ecke ist die wahrgenommene Entfernung kleiner als die tatsächliche Entfernung. Das Netzhautbild erscheint dadurch im Verhältnis zur scheinbar geringen Distanz klein; das Wahrnehmungssystem folgert daraus, dass es sich tatsächlich um ein kleines Objekt handeln muss, da es in der „Nähe“ klein erscheint.
Das Wahrnehmungssystem nimmt also eher in Kauf, dass eine Person beim Gang von einer Ecke zur anderen schrumpft bzw. wächst, als dass der Raum nicht wirklich rechtwinklig ist.21 Laut Ames und Ittelson & Kilpatrick ist die Ursache dieses Phänomens die Erfahrung, dass Räume, Fenster usw. rechtwinklig und i.d.R. rechteckig sind; der Grundriss von Räumen hat im Normalfall dieselben Eigenschaften.21
Die Erfahrung dominiert bei dieser Täuschung über die Wahrnehmung.21 Beim sog. Honi-Phänomen, das 1952 erstmals von W. Wittreich beschrieben wurde, dominiert ebenfalls die Erfahrung: Die gewohnte Größe des Ehemannes ist stärker als die Täuschung durch den Amesraum.21 Der Effekt ist ebenfalls bei Personen zu beobachten, die im Raum mit einer Videokamera gefilmt wurden und sich danach auf dem Monitor betrachteten – auch sie unterlagen nicht immer der Täuschung.21 In diesem Fall ist jedoch auch der Einfluss der Größenkonstanz durch die Videoaufzeichnung geringer.
Literaturverweise:
21 Der Ames-Raum – T. Hanitz / E. Sukowski – 1996
15 ABC der Optik – K. Mütze – 1961
Autor: Prof. Dr. Bernd Lingelbach