Welche der farbigen Linien stellt die Fortsetzung der weißen Linie dar?
Auf den ersten Blick ist dies gar nicht so einfach, denn unser
Wahrnehmungssystem lässt sich von dieser Figur täuschen – die Folge daraus ist, dass wir uns verschätzen und die richtige Lösung nur mit Hilfsmitteln wie z.B. einem Lineal herausfinden können!
Die darunter abgebildete Originalversion wurde von J.C. Poggendorff im Jahre 1860 entdeckt.17 Dort erscheinen die beiden Diagonalen, die Bestandteile einer Geraden sind, ebenfalls gegeneinander versetzt.
Dabei fällt die Täuschung umso stärker aus, je steiler die Diagonale verläuft; dreht man hingegen die gesamte Figur um etwa 45° gegen den Uhrzeigersinn, so wird die Illusion geringer.
Die Täuschung beruht vermutlich zum Großteil auf den stumpfen Winkeln der Figur:
Entfernt man die spitzen Winkel, bleibt die Täuschung erhalten,
während bei Entfernung der stumpfen Winkel der Effekt nahezu verschwindet.
Auch das Rechteck ist nicht zwingend notwendig, um die Täuschung auszulösen: In der Variante von Fineman (1981) reicht es aus, dass unser Wahrnehmungssystem dort ein Rechteck vermutet (ähnlich wie beim Kanisza-Dreieck).30
Wie entsteht diese Illusion?
Auch für diese Täuschung existiert eine
Vielzahl von Theorien zur Entstehung dieser Illusion.
Eine Theorie beschreibt als Ursache die Winkelverzerrung durch unser Wahrnehmungssystem. Demnach werden spitze Winkel größer wahrgenommen als sie sind (Winkelüberschätzung); analog werden stumpfe Winkel kleiner wahrgenommen, als sie tatsächlich sind (Winkelunterschätzung).17
Bedingt wird diese Verarbeitung vermutlich durch bestimmte Nervenzellen in der Sehrinde – den orientierungsspezifischen Zellen der Area striata im visuellen Cortex. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie nur auf eine bestimmte Reizorientierung mit voller Aktivität reagieren, auf andere Reizorientierungen entsprechend geringer.
Zusammen mit Prozessen lateraler Hemmung, die bereits auf der Ebene der Netzhaut stattfinden, ergeben sich bei spitzen Winkeln Überschneidungen derart gehemmter Bereiche innerhalb der Figur. Die Folge daraus ist, dass die Aktivität der für diesen Reiz weniger empfindlichen spezifischen Neuronen auf der Winkelinnenseite stärker abnimmt als auf der Winkelaußenseite – der Schwerpunkt verschiebt sich nach außen, der Winkel wird falsch eingeschätzt.17
Die Poggendorff-Illusion entsteht demnach aus einer falschen Einschätzung der Winkel zwischen der Geraden und den Konturen des Rechteckes: Die Geradenstücke erscheinen jeweils vom Rechteck weg-gedreht (siehe rote punktierte Linien in Abbildung rechts) und können darum nicht mehr als durchgehende Gerade wahrgenommen werden.
Dieser Erklärungsansatz wird vor allem von Hubel und Wiesel
vertreten, die an Cortexzellen von Katzen entsprechende Untersuchungen durchgeführt haben.
Die Fehleinschätzung der Winkel hat durchaus auch einen tieferen Sinn:
Derartige Winkel kommen im Netzhautbild als zweidimensionale Abbildung von rechten Winkeln in unserer Umwelt zustande. Damit die Umwelt jedoch „winkelrichtig“ interpretiert wird, greift das Wahrnehmungssystem korrigierend ein und erfasst spitze Winkel größer und stumpfe Winkel kleiner – die Winkel werden also falsch eingeschätzt.17
Allerdings erklärt diese Theorie nicht das Zustandekommen der Täuschung, wenn die Kontur des Rechtecks fehlt oder die Linien durch Punktereihen ersetzt wurden;
in diesem Fall kommt die reduzierte Aktivität orientierungsspezifischer Zellen nicht in Frage, da diese durch nicht vorhandene Konturen nicht erregt bzw. gehemmt werden können.
Eine andere Theorie, die vor allem vo
n B. Gillam vertreten wird, geht von einer räumlichen Verarbeitung der Poggendorff-Figur aus – d.h. unser Wahrnehmungssystem ergänzt die Figur im perspektivischen Sinne. Dies ist naheliegend, da diese Linienkonfiguration auch im Alltag als zweidimensionale Darstellung (z.B. als Netzhautbild) einer dreidimensionalen Szene vorkommt.39
Ein Beispiel dafür ist hier rechts abgebildet: Betrachtet man die beiden Häuser, findet man spontan keine systematische Fortsetzung bestimmter Linien. Bei genauerer Beobachtung der farbig gekennzeichneten Linien kann man aber hier die Poggendorff-Figur erkennen.
Aufgrund der Gesetze der Perspektive (hier: Parallelperspektive) liegen die beiden Geradenstücke auf einer Fluchtlinie (gestrichelt dargestellt), die zum Fluchtpunkt (hier im Unendlichen) zieht. Die markierten Linien repräsentieren im Netzhautbild – wie bereits oben erwähnt – die rechten Winkel unserer Umwelt. Als Folge daraus werden die schrägen Linien unterschiedlichen Ebenen zugeordnet und versetzt wahrgenommen.17
Für diese Theorie spricht, dass die Täuschung verschwindet, wenn die kurzen Kanten des Rechteckes ebenfalls den Fluchtlinien folgen: in dieser Situation besteht eine eindeutige räumliche Vorgabe, in der sich fortsetzende Geraden einen Sinn ergeben.33
Die räumlich-perspektivische Interpretation erfordert außerdem keine vollständig gezeichneten Winkel: allein die Suggestion von Winkeln ist für die Illusion ausreichend.17
Allerdings versagt die Theorie bei einigen Variationen der
Poggendorff-Figur, die keine Elemente einer perspektivischen Darstellung enthalten, wie in der Abbildung rechts.36
Auch das Verschwinden / die Verringerung der Illusion bei Orientierung der unterbrochenen Gerade in 90°- bzw. 180°-Richtung kann nicht vollständig mit dieser Theorie erklärt werden, da die perspektivischen Elemente weiterhin in der Figur enthalten sind.36 Ob diese Elemente in den beschriebenen Orientierungen nicht als solche erkannt werden, ist noch zu klären.
Ein weiterer Erklärungsansatz basiert auf der Grundlage, dass unser visuelles System verschieden große Details auf unterschiedlichen Kanälen verarbeitet.
Die Gittersehschärfe, d.h. die maximal auflösbare Ortsfrequenz (Perioden pro Grad Sehfeld; eine Periode entspricht in einem Rechteckgitter einem dunklen + einem hellen Streifen) – spielt hierbei eine große Rolle. Für unterschiedliche Ortsfrequenzen ergeben sich z.B. unterschiedliche Schwellen für die Kontrastempfindlichkeit, was auf verschiedene Verarbeitungskanäle hinweist.
Außerdem kann jedes Objekt rechnerisch aus vielen verschiedenen Gittern zusammengesetzt werden, selbst scharfe Kanten können durch eine Summe von übereinanderprojizierten Gittern dargestellt werden; dabei gilt: je mehr hohe Ortsfrequenzen beteiligt sind, desto schärfer erscheinen die Kanten des Objektes.
Wird ein Objekt auf diese Art in seine Ortsfrequenzen zerlegt,
spricht man von Fourier-Analyse. Führt man nun für ein optisches Objekt eine Fourier-Analyse durch und ermittelt dadurch den Ortsfrequenzgehalt, kann dieses Objekt modifiziert werden. Dies erfolgt in der Regel dadurch, dass bestimmte Ortsfrequenzen herausgefiltert werden, bevor die verbleibenden Ortsfrequenzen wieder summiert werden. Werden dabei die hohen Ortsfrequenzen herausgefiltert, spricht man von einer Tiefpassfilterung, während bei einer Bandpassfilterung Ortsfrequenzen eines bestimmten Bereiches eliminiert werden. Dadurch erhält man Informationen darüber, welche Gewichtung den einzelnen Ortsfrequenzbereichen bei der Verarbeitung durch das visuelle System zukommt.
Nach einer Tiefpassfilterung der Linien-Poggendorff-Täuschung ergibt sich eine Verschiebung des Leuchtdichteschwerpunktes von der Winkelspitze weg, es entsteht ein stumpferer Winkel.22 Die Fortsetzung der Geraden erscheint plötzlich viel zu hoch, um eine Verlängerung der unteren Linie zu sein.
Allerdings hat sich bei näheren Untersuchungen gezeigt, dass bei achromatischen Punkte-Mustern die Illusion auch bei Figuren entsteht, die ausschließlich hohe Ortsfrequenzen enthalten – damit fällt die Tiefpassfilterung als Ursache für die Winkelfehleinschätzung weg.22
Wird eben dieses Punkte-Muster aber farbig dargeboten, verschwindet die Illusion fast völlig.22 Daraus lässt sich schließen, dass die niedrigen Ortsfrequenzen bei der Verarbeitung farbiger Reize eine größere Rolle spielt als bei Helligkeitskontrast-Reizen; dies deckt sich mit dem unterschiedlichen Verlauf der Kontrastempfindlichkeitsfunktion für farbige und Helligkeits-kontrast-Gitter.22
Es kann jedoch bei farbiger Darbietung einer Figur mit niedrigen und hohen Ortsfrequenzen keine stärkere Illusion als bei einer entsprechenden Hell-Dunkel-Version hervorrufen werden.22
Allgemein ist anzumerken, dass die Poggendorff-Illusion bei niedrigem Kontrast fast vollständig verschwindet.22
Literaturverweise:
17 Wahrnehmung – I. Rock – 1985
30 Ich sehe was, was du nicht siehst – J.R. Block/H.E. Yuker – 1993
Autor: Prof. Dr. Bernd Lingelbach